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24.07.2023

Kapitel 8: Gleichstellung – gleiche Rechte für Frauen, gleiche Rechte für alle

Wir GRÜNE verstehen uns als Teil der Frauen- und Queerbewegung, mit der wir gemeinsam viel erreicht haben. Doch die Gleichberechtigung der Geschlechter ist noch nicht erreicht, im Gegenteil: Wir erleben gefährliche Rollbacks, Angriffe auf Emanzipationspolitik oder Genderforschung. Noch immer beeinflusst das Geschlecht die Chancen, die ein Mensch im Leben hat. Geschlechtsspezifische Unterschiede in Lohn, Rente und Care-Arbeit sind immer noch harte Lebensrealität. Frauen verdienen im Durchschnitt weniger als Männer, noch immer dominieren klassische Rollenzuschreibungen. Und vor allem Frauen und Mädchen erleben häusliche oder sexualisierte Gewalt. Und auch wenn seit dem wegweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2017 nun endlich die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern rechtlich anerkannt und die dritte Option „divers“ im Personenstandsregister möglich ist, ist die Lebensrealität für queere Menschen leider oft noch meilenweit davon entfernt. Auch zu einer echten Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es noch ein weiter Weg. Wir begreifen Gleichstellungspolitik intersektional, denn oft überschneiden sich Diskriminierung und Benachteiligungen wie beispielsweise Armut, Behinderung, sozialer Status, Migrationsgeschichte oder sexuelle Orientierung mit Diskriminierung und Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Selbstbestimmung und Sicherheit, Freiheit und Vielfalt, Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Geschlechter sind für uns eine Querschnittsaufgabe: von der Bildung und Berufswahl bis zur Stadtplanung und zum Wohnen bis ins hohe Alter. Eine geschlechtergerechte Perspektive, die als queerfeministische Politik alle Geschlechter in den Blick nimmt, schafft wirtschaftliche Chancen, stabilisiert unsere Gesellschaft und stärkt unsere Demokratie.

Wir haben schon einiges erreicht. Wir haben das Hessische Kommunalwahlgesetz um den Appell an die Parteien erweitert, bei der Aufstellung der Listen Männer und Frauen zu gleichen Teilen zu berücksichtigen. Wir selbst leben diesen Anspruch schon lange und auch in der aktuellen Wahlperiode: Von 29 GRÜNEN Landtagsabgeordneten sind 15 weiblich – und 2 von 4 GRÜN geführten Ministerien leiten Frauen. Mit der Überarbeitung des Gleichberechtigungsgesetzes haben wir die Frauen- und Gleichstellungsbüros gestärkt und die Vernetzung der Frauenbeauftragten im Ministerium angesiedelt. Der 2022 neu aufgelegte hessische Lohnatlas ist eine wichtige Grundlage, um die Entgeltlücken transparent zu machen und zu schließen.

Das war erst der Anfang. Unser Land braucht mehr. Mehr Mut, die notwendigen Veränderungen anzugehen. Mehr Willen, diese Herausforderungen zu gestalten. Mehr Verantwortung, diesen Weg für alle fair und gerecht zu beschreiten. Wir wollen für unser Land den nächsten Schritt gehen.


Die Hälfte der Macht gehört Frauen
Frauen sind nach wie vor in vielen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in Politik, Wirtschaft und Kultur, unterrepräsentiert. Dies wollen wir ändern, indem wir strukturelle Benachteiligungen beseitigen, geschlechtsspezifische Barrieren abbauen und Frauen ermöglichen, sich einzubringen.

Das Hessische Gleichberechtigungsgesetz wollen wir daher evaluieren und weiterentwickeln. Wir unterstützen eine konsequente Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände. In allen landeseigenen Gesellschaften wollen wir mit 50 Prozent Frauenanteil in Gremien vorbildlich vorangehen und Chancengleichheit und Familienfreundlichkeit fördern sowie die Ausweitung des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes prüfen. Wir fördern Führung in Teilzeit. Frauen- und Gleichstellungsbüros wollen wir nachhaltig bedarfsgerecht stärken, eine Landeskoordinierungsstelle für Gleichstellung einrichten und eine Gleichstellungskonferenz ins Leben rufen. Die kommunale Frauenarbeit wollen wir stärken, indem wir in der Hessischen Gemeindeordnung einheitliche Bedingungen für Frauenbeauftragte definieren, ihre Rolle stärken und die Vernetzung aller Frauenbeauftragten voranbringen. In Melde- und Beratungsstellen im öffentlichen Dienst wollen wir intersektionale Wirkungen stärker fokussieren. Feministische Bildungsarbeit halten wir in den Bildungsplänen verankert und entwickeln sie weiter.

Die geschlechtergerechte Bezahlung wollen wir vorantreiben und dazu beitragen, die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu schließen. Der Hessische Lohnatlas ist bundesweit einmalig; wir wollen ihn fortführen und den Dialog mit den Sozialpartnern über seine Ergebnisse führen. Damit die Beschäftigungssituation der meisten Frauen besser abgebildet wird, soll er künftig auch die Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse spezifischer erfassen. Wir fördern sowohl die Berufstätigkeit als auch die Selbstständigkeit von Frauen und setzen Anreize für eine gleichberechtigte Aufteilung der Familien- und Fürsorgearbeit. Dem Gender-Care-Gap begegnen wir beispielsweise mit der Förderung einer lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung und anderen Modellprojekten sowie einer landesweiten Aufklärungskampagne. Und wir bauen in Hessen weiterhin die Kinderbetreuung aus, insbesondere in den Randzeiten und am Wochenende.

Alleinerziehende, zu 90 Prozent Frauen, müssen große Herausforderungen bewältigen. Deshalb unterstützen wir sie mit Beratungsstrukturen und erleichtern den Zugang zu Hilfsangeboten und Leistungen. Gerade hier wirkt die von der Bundesregierung geplante Kindergrundsicherung, die wir unterstützen. Durch bedarfsgerechte öffentliche Kinderbildungs- und Betreuungsstrukturen ermöglichen wir Alleinerziehenden in vollem Umfang und entsprechend ihrer Qualifikationen zu arbeiten, beruflich aufzusteigen und die wirtschaftliche Lage für sich und ihre Kinder zu verbessern.

Wir wollen den Anteil der Gründerinnen weiterhin erhöhen sowie ihre Beratung, Begleitung und ihren Zugang zu Informationen und Kapital fördern. Die Zusammenarbeit mit Einrichtungen zur Förderung von Frauen vor der Gründung wie JUMP wollen wir stärken. Wir unterstützen Anstrengungen auf Bundesebene, dass Mutterschutz auch für beruflich Selbstständige geregelt wird. Wir stärken die Professor*innenprogramme an Hochschulen und stärken die Anreizfaktoren im Hochschulpakt, damit wir den Anteil von Professorinnen von 28 auf 50 Prozent steigern.

Wir wollen mehr Frauen in den Parlamenten. In Hessen beträgt der Anteil der Frauen im Parlament 34,3 Prozent bei 50,6 Prozent weiblichem Bevölkerungsanteil. Es liegt in politischer Verantwortung, Frauen in Hessen die angemessene Repräsentanz und Einfluss auf politische Entscheidungen zuzusichern. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihren Anstrengungen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Ziel einer paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament durch eine Kommission zu erörtern und entsprechende Schritte der Umsetzung zu erreichen. Die Ergebnisse wollen wir für Landesparlament und Kommunen für Gremien und Spitzenämter auswerten.

Gleichberechtigung betrifft auch die moderne Arbeitswelt. Wir wollen den Anteil von Frauen im MINT-Bereich erhöhen und setzen bei Mädchen und jungen Frauen an, sie gezielt für Berufe in der Technik, den Naturwissenschaften und der IT zu begeistern. Damit das gelingt, müssen wir entsprechende Angebote an unseren Schulen und Hochschulen weiter ausbauen. Auch die Handwerks-, Industrie- und Handelskammern sowie Arbeitgeber*innenverbände als Akteur*innen des dualen Ausbildungssystems wollen wir als Partner*innen für eine gezielte Ansprache junger Frauen und Mädchen für sogenannte „Männerberufe“ gewinnen. Wir unterstützen Geschlechterforschung in technischen Wissenschaften, um eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Technikentwicklung zu ermöglichen. Dies sehen wir insbesondere vor dem Hintergrund des Gender-Data-Gaps und Digital-Gender-Gaps. Sichtbarkeit, Einfluss und finanzielle Situation von Frauen in Kunst und Kultur wollen wir durch gezielte Maßnahmen weiter verbessern. Zugleich setzen wir uns für eine Aufwertung der Care-Berufe ein und entwickeln mit den Akteur*innen im Erziehungs- und Pflegebereich geeignete Maßnahmen, um Jungen und junge Männer gezielt für die klassischen „Frauenberufe“ in Erziehung und Pflege zu gewinnen.

Politische Entscheidungen treffen wir unter dem Leitbild der Geschlechtergerechtigkeit, auch bekannt als Gender-Mainstreaming. Darüber hinaus setzen wir auf einen geschlechtergerechten Haushalt unter dem Einsatz von Gender-Budgeting.


Gewalt gegen Frauen entschlossen bekämpfen
Gewalt gegen Frauen ist strukturell. Frauen und Kinder sind besonders oft Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt. Wir setzen die Istanbul-Konvention konsequent und wissenschaftlich begleitet um. Gemeinsam mit dem Bund und den Kommunen stellen wir eine verlässliche und bedarfsgerechte Finanzierung der Schutzeinrichtungen, Frauennotrufe sowie Beratungs- und Interventionsstellen sicher. Frauennotrufe und Fachberatungsstellen wollen wir finanziell stärken, um neben der Beratung auch die Präventions-, Vernetzungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu ermöglichen.

Wir werden das Gewaltschutzsystem in Hessen flächendeckend und bedarfsgerecht ausbauen. Barrieren zum Zugang zu Schutzunterkünften und medizinischer Versorgung wie etwa Flüchtlingsstatus, Residenzpflicht oder fehlenden Sozialleistungsanspruch wollen wir konsequent abbauen. Beim Thema geschlechtsspezifische Gewalt denken wir stets Mädchen und junge Frauen mit und halten entsprechend altersgerechte Angebote vor. Die Anzahl der Plätze in hessischen Frauenhäusern wollen wir den Empfehlungen der Istanbul-Konvention folgend ausbauen. Wir richten ein Sofortprogramm für 300 zusätzliche Familienplätze in Schutzunterkünften und Übergangswohnungen ein. Wir unterstützen Initiativen, die den Zugang zu Wohnunterkünften nach den Schutzunterkünften erleichtern. Darunter sollen sich spezialisierte Angebote für junge Frauen, Migrantinnen, queere und gewaltbetroffene Männer befinden. Der effektive Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und Stalking bedarf eines strukturierten, professionsübergreifenden Risikomanagements. Dafür wollen wir Fallkonferenzen etablieren, die Polizei, Ämter, Staatsanwaltschaft, Interventionsstellen und Täterarbeit zusammenbringen, um ein koordiniertes Vorgehen zu sichern.

Femizide und Femizidversuche müssen als solche benannt und in der Kriminalstatistik entsprechend aufgeführt werden. Diese soll mit einer Femizidstudie in Hessen begleitet werden, deren Analyse fortwährende Maßnahmen zur Prävention bieten soll. Wir evaluieren den Landesaktionsplan häusliche Gewalt und stärken die Präventions- und Täterarbeit. Außerdem stärken wir das 2-Regionen-Modell „Hessen gegen Ehrgewalt“. Wir werden weiterhin für die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sensibilisieren sowie Frauenrechte und Gleichberechtigung im Bewusstsein verankern. Wir stärken die Präventionsarbeit gegen Frauen-, Homo- und Transfeindlichkeit. Die Aktionspläne der Landesregierung entwickeln wir diesbezüglich weiter. Die Gleichberechtigung von Frauen wird in allen Bildungsplänen für alle Altersstufen implementiert; geschlechtsspezifische Präventionsangebote für unterschiedliche Altersstufen zum Thema sexualisierte Gewalt und gewaltfreie Konfliktlösung werden wir ausbauen.

Wir wollen eine effektive Strafverfolgung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie die flächendeckende Versorgung mit Soforthilfe nach Vergewaltigung sicherstellen. Dazu sichern wir hessenweit einen niedrigschwelligen Zugang zu medizinischer Akutversorgung und vertraulicher, anzeigeunabhängiger Beweissicherung für alle Betroffenen. Wir werden uns als GRÜNE auf allen politischen Ebenen gemeinsam dafür einsetzen, dass der Vergewaltigungsparagraf (§ 177) auf Bundesebene reformiert wird, um Verurteilungen von Sexualstraftätern zu erleichtern und die Betroffenen besser zu schützen.

Für Berufsgruppen, die mit Opfern arbeiten, werden wir regelmäßige landesweite Fortbildungsmaßnahmen schaffen. Täterberatung, die die Sicherheit der betroffenen Frauen und Kinder zum Ziel hat, sowie Programme zur nachhaltigen Veränderung von durch Gewalt geprägten Verhaltensmustern werden wir flächendeckend fördern. Für Aufnahmeeinrichtungen des Landes Hessen und für kommunale Unterkünfte für Geflüchtete werden wir das Personal zu Gewaltschutzkonzepten schulen und sensibilisieren.

Wir setzen uns gegen Menschenhandel und für mehr Schutz vor Armuts- und Zwangsprostitution ein. Wir fördern weiterhin Projekte und Organisationen, die sich in der Prävention und Intervention bei weiblicher Genitalverstümmelung engagieren. Wir lassen Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, nicht allein und sichern ihnen Beratung, Gesundheitsversorgung, Sprach-, Integrations- sowie Weiterbildungskurse zu. Betroffene brauchen einen niedrigschwelligen kostenfreien Zugang zu Gesundheitschecks und weiteren Programmen, die sie gezielt bei der Suche nach Unterkunft, Verpflegung und Arbeit außerhalb der Prostitution unterstützen.


Frauengesundheit fördern
Jedes Geschlecht weist gesundheitliche Besonderheiten auf. So gibt es spezifische Erkrankungen, die nur Frauen oder nur Männer betreffen oder geschlechtsspezifisch gehäuft auftreten. Unterschiede gibt es auch in der Wirksamkeit von Medikamenten sowie bei geschlechtsspezifischen Lebensphasen wie z. B. Schwangerschaft und Wechseljahren. Trans- und intergeschlechtliche Personen haben ebenfalls spezifische Bedarfe. Diese Besonderheiten sind in der Gesundheitsversorgung, Prävention und der medizinischen Forschung oft zu wenig präsent. Dies wollen wir ändern.

Wir fördern flächendeckend Frauengesundheitszentren und gezielte Angebote zur Erhaltung der körperlichen und mentalen Gesundheit wie Mutter-Kind-Kuren durch den Ausbau von Gesundheitskoordinationsstellen in den Kommunen. In der Gesundheitsforschung wollen wir daher die Gesundheit von Frauen und unterrepräsentierten Geschlechtsidentitäten stärker in den Blick nehmen und in Hessen eine intersektional feministische Gesundheitsforschung verankern. Dazu gehört die Sensibilisierung, Gesundheitsdaten differenziert zu erheben, und die gezielte Erfassung im Gesundheitsmonitoring. Wir wollen eine Forschungsstelle für Gendermedizin in Zusammenarbeit mit den drei medizinführenden Hochschulen ins Leben rufen. Damit sollen Gendermedizin und Intergeschlechtlichkeit auch in der Lehre und im Fokus der Pharmazie verankert werden.

Die Versorgung von schwangeren Frauen wollen wir stärken. Wir werden die Maßnahmen des „Runden Tisches Geburtshilfe in Hessen“ umsetzen, evaluieren und weiterentwickeln und damit die Versorgung von werdenden Eltern durch Hebammen vor, während und nach der Geburt verbessern. Wir setzen uns für eine gewaltfreie Geburt, eine entsprechende Sensibilisierung und Hilfsangebote für Betroffene bzw. Traumatisierte ein.

Jede Frau soll sich wohnortnah über die anerkannten Methoden eines Schwangerschaftsabbruches informieren können und ihn mit der von ihr frei gewählten Methode vornehmen lassen können. Der Zugang zur ergebnisoffenen Beratung muss ohne Beeinflussung und Belästigung anonym sichergestellt sein. Deshalb setzen wir uns auf Bundesebene für eine rechtssichere Regelung ein, die Gehsteigbelästigung verhindert. Wir wollen neben einer vollfinanzierten Schwangerschaftskonfliktberatung auch ein Versorgungsnetz mit Kliniken und Arztpraxen aufbauen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und somit ein flächendeckendes Angebot sicherstellen. Wir unterstützen die Anstrengungen auf Bundesebene, die die Selbstbestimmungsrechte der Schwangeren stärken und die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen beenden sollen. Die Ergebnisse der hierzu einberufenen Kommission, um diese Ziele in den notwendigen Einklang mit den verfassungsrechtlichen und ethischen Aspekten im Hinblick auf den Lebensschutz des ungeborenen Kindes zu bringen, werden wir hierfür auswerten.

Wir wollen in Schulen und öffentlichen Einrichtungen kostenlose Hygieneartikel in Form von Binden und Tampons sowie Informationen zu Anlaufstellen bei Schwangerschaftskonflikten, Gewalt und Seelsorge zur Verfügung stellen. Wir unterstützen Initiativen, die die Kostenübernahme verschreibungspflichtiger Verhütungsmittel für Frauen mit geringem Einkommen ermöglichen