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24.07.2023

Kapitel 11: Eine starke, unabhängige und funktionsfähige Justiz als Grundlage unseres Rechtsstaats

Eine funktionsfähige Justiz, auf deren Unabhängigkeit die Bürger*innen in Hessen vertrauen können, ist das Fundament des Rechtsstaats und damit für eine funktionierende Demokratie unabdingbar. Dazu gehören unabhängige Gerichte und eine leistungsfähige Justizverwaltung. Eng damit verbunden sind Prävention, Opferschutz, Resozialisierung und sichere Unterbringung der verurteilten Straftäter*innen. Eine funktionierende Justiz geht über Strafverfahren hinaus, sie ist so vielfältig wie gesellschaftliche Konflikte und regelt das Zusammenspiel von Staat und Individuen umfassend. Sie ist damit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar. Um auch künftig ausreichend gut qualifiziertes Personal für diese verantwortungsvollen Tätigkeiten zu finden, wollen wir die Justizberufe so attraktiv gestalten, dass sich auch künftig die gut qualifizierten Absolventen der verschiedenen Ausbildungsgänge für den Justizdienst entscheiden.

Wir haben schon einiges erreicht. Mit dem hessischen „Pakt für den Rechtsstaat“ haben wir einen verlässlichen Stellenaufwuchs in allen Gerichtszweigen geschaffen, der für eine leistungsfähige Justiz wichtig ist. Wir haben es Richter*innen ermöglicht, den Eintritt in den Ruhestand um ein Jahr nach hinten zu verschieben. Mit dem Landeshaushalt für die Jahre 2023 und 2024 haben wir diesen Ansatz nochmals deutlich ausgebaut. Mit den Häusern des Jugendrechts werden Jugendliche dabei unterstützt, nicht in dauerhafte Kriminalität abzugleiten. Dazu kommt die Schaffung der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internet- und Computerkriminalität (ZIT) als wirksames Mittel zur Bekämpfung der Straftaten im Internet, besonders Kinderpornografie, Drogen- oder Waffenhandel. Sie ist außerdem ein Baustein zur Bekämpfung von Hate Speech. Als besonderen Ausdruck der Verantwortung und der Solidarität hat der Hessische Landtag nach den rassistischen Morden von Hanau auf unsere Initiative hin einen mit 2 Millionen Euro pro Jahr ausgestatteten „Fonds für die Opfer und Angehörige schwerer Gewalttaten von landesweiter Bedeutung und von Terroranschlägen“ gegründet.

Das war erst der Anfang. Unser Land braucht mehr. Mehr Mut, die notwendigen Veränderungen anzugehen. Mehr Willen, diese Herausforderungen zu gestalten. Mehr Verantwortung, diesen Weg für alle fair und gerecht zu beschreiten. Gehen wir gemeinsam den nächsten Schritt.


Justizbehörden zukunftsfähig aufstellen
Arbeitsplätze in der Justiz sind vielfältiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir wollen in allen Bereichen, sei es im Justizvollzug, bei den Wachtmeister*innen, den Servicemitarbeiter*innen, Rechtspfleger*innen, Justizfachanstellten, Gerichtsvollzieher*innen und Bewährungshelfer*innen und Richter*innen sowie Staatsanwält*innen, die Attraktivität der Justiz als Arbeitgeberin stetig verbessern. Zugleich setzen wir uns auch hier, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen, dafür ein, dass die Justizbehörden die Gesellschaft in ihrer Diversität abbilden. Eine rechtsstaatliche Justiz ist unabhängig von Einflussnahmen der Exekutive. Wir prüfen Möglichkeiten zur Stärkung der richterlichen Selbstverwaltung ebenso wie eine Beschränkung des ministeriellen Weisungsrechts gegenüber den Staatsanwaltschaften.

Gute Arbeitsbedingungen sind eine entscheidende Voraussetzung, um die nötigen Stellen in den Justizbehörden zeitnah zu besetzen. Dazu gehören neben der Verbesserung der Eingangsbesoldung und der zügigen Durchführung von Bewerbungsverfahren auch die Schaffung eines modernen, familienfreundlichen Arbeitsumfelds mit modernen Arbeitsmitteln und zeitgemäßen Räumlichkeiten sowie die verstärkte Anpassung der Arbeitszeitmodelle an die Bedürfnisse der Beschäftigten — bis hin zur Prüfung von Sabbaticals. Zudem sollte geprüft werden, ob das Modell des Lebenszeitarbeitskontos allen Justizmitarbeiter*innen eröffnet werden kann. Der Einsatz der elektronischen Akte muss mit einer entsprechend technischen Ausstattung der Arbeitsplätze und der Sitzungssäle einhergehen. Die Digitalisierung der Justiz erfordert verstärkte Schulungen und mehr entsprechend geschultes, gut bezahltes IT-Fachpersonal für den erforderlichen Support. Fort- und Weiterbildungen wollen wir flächendeckend ermöglichen. Die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz zur Unterstützung insbesondere für Rechercheaufgaben bei umfangreichen Materialsammlungen oder sonstigen Massenaufgaben werden wir prüfen.

Die Öffentlichkeitsarbeit der Justiz wollen wir ausbauen. Sie ist ein wichtiges Element, um Gerichtsverfahren und Entscheidungen auch über die herkömmlichen Medien hinaus nachvollziehbar und verständlich zu kommunizieren und dadurch Rechtsfrieden herzustellen. Zur Herstellung des Rechtsfriedens kann auch ein außergerichtliches Schiedsgerichtsverfahren dienen. Hier wollen wir auf den vorhandenen Grundlagen aufbauen und professionelle Dialogformate oder Mediationen zur Herstellung von sozialem Frieden verstärkt in den Blick nehmen.

Es ist uns bewusst, dass die personelle Ausstattung der Justiz mit dem erhöhten Aufkommen an Strafanzeigen aufgrund neuer Gesetze oder neuer gesellschaftlicher Entwicklungen Schritt halten muss, damit Verfahren auch sachgerecht abgearbeitet werden können. Wir wollen die durchschnittliche Verfahrensdauer verkürzen. Alle dazu nötigen Maßnahmen werden wir prüfen. Wir werden sehr genau in den Blick nehmen, in welchen Bereichen dazu besondere Unterstützung durch erhöhten Personaleinsatz nötig ist. Wir unterstützen den Einsatz von Videoübertagungen bei Verhandlungen und wollen dies zunehmend zu einer Arbeitsroutine werden lassen. Offene Stellen bei Gerichten und Staatsanwaltschaften wollen wir schnellstmöglich nachbesetzen. Wir begegnen den Belastungen der Studierenden und der Prüfungsämter sowie dem Personalmangel in der Justiz mit einer Modernisierung der juristischen Ausbildung. In diesem Zusammenhang wollen wir eine Verlängerung der Regelstudienzeit ebenso prüfen wie die Einführung eines integrierten Bachelors in das Jurastudium.

Die Digitalisierung hat den Aufgabenbereich der Justiz grundlegend verändert. Einerseits, weil neue Deliktarten hinzugekommen sind. Andererseits, weil die Bekämpfung von schweren Straftaten im Internet, wie etwa der Kinderpornografie, besondere technische Ressourcen und Fertigkeiten erfordert. Wir wollen den Kampf gegen im Internet begangene Straftaten wie Kinderpornografie, Drogen- oder Waffenhandel effizient verstärken. Wir werden deshalb die bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main angesiedelte „Zentralstelle zur Bekämpfung der Internet- und Computerkriminalität (ZIT)“ personell weiter aufstocken und fachlich weiterentwickeln. Die begonnen Maßnahmen im Kampf gegen Hate Speech im Internet werden wir fortlaufend weiter anpassen.

Wir wollen die Justiz entlasten und die Ahndung geringfügiger Regelverstöße mit Freiheitsstrafen vermeiden. Deshalb werden wir auch in Zukunft Initiativen zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten ergreifen. Wir begrüßen Initiativen auf Bundesebene, um ticketloses Fahren im ÖPNV und das „Retten“ weggeworfener Lebensmittel („Containern“) nicht mehr als Straftat einzustufen. Auf hessischer Ebene prüfen wir Vereinbarungen mit den Verkehrsverbünden, ticketloses Fahren im ÖPNV als nicht anzuzeigenden Vertragskonflikt zu behandeln.


Prävention als Leitgedanke
Die Vermeidung von Straftaten hat für uns einen hohen Stellenwert. Präventionsarbeit wollen wir, wo immer möglich, verstärken. Insbesondere wollen wir das Abdriften von jungen Menschen in eine kriminelle Karriere verhindern. Daher unterstützen wir auch weiterhin das Konzept der Häuser des Jugendrechts und wollen den sozialen Aspekt und ihre interdisziplinäre Arbeit weiterhin stärken und vertiefen. Die Bündelung von Kräften und Kompetenzen an einem Ort hat sich als guter Weg erwiesen, Jugendliche vor dem dauerhaften Abgleiten in die Kriminalität zu bewahren. Wir wollen deshalb an geeigneten Standorten weitere Häuser des Jugendrechts etablieren. Die bereits existierenden Häuser des Jugendrechts wollen wir stärken.

Zur Vorbeugung vor Straftaten werden häufig gerichtliche Anordnungen wie Wohnungsverweisung oder Näherungsverbote ausgesprochen, insbesondere auch zum Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern. Diese Anordnungen werden immer wieder von den Tätern missachtet. Um dies zu verhindern, wollen wir ein wirksames Gefährdungsmanagement etablieren und damit auch einen Beitrag zur Verhinderung von Femiziden leisten. Hierfür kann z. B. die elektronische Fußfessel ein wirksames Mittel sein. Außerdem wollen wir die aktive Aufklärungsarbeit über Femizide in der Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei verstärken.


Strafvollzug und Resozialisierung
Die Resozialisierung stellt das wesentliche Ziel des Strafvollzugs dar und dient einem wirksamen Schutz vor neuen Straftaten. Die beste Prävention besteht darin, wenn entlassene Strafgefangene künftig straffrei leben. Zur Erfüllung dieses Anspruchs müssen in den Justizvollzugsanstalten entsprechende Angebote vorgehalten, ausgebaut und mit Stellen hinterlegt werden. Dazu gehören Beratungs- und Bildungsangebote vor allem im Jugendstrafvollzug, die die Radikalisierung der Inhaftierten vermeiden helfen. Das schließt auch einen eingeschränkten Zugang zum Internet ein, der ermöglicht, Nachrichtenseiten und Bildungsangebote abzurufen sowie E-Mails an freigeschaltete Adressen zu senden. Die muslimische Seelsorge, die – neben der vorhandenen christlichen Seelsorge – seit unserer Regierungsbeteiligung in den Anstalten deutlich verbessert wurde, wollen wir weiter ausbauen. Ebenso wie die Angebote zur Suchtberatung. Wir wollen Inhaftierten einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu freiwilligen Psychotherapien ermöglichen. Durch eine Stärkung der Straffälligenhilfe wollen wir zusätzlich dazu beitragen, dass keine weiteren Straftaten begangen werden. Hiermit wollen wir auch die Perspektive der Opfer stärker ins Bewusstsein rufen. Der Täter-Opfer-Ausgleich, Mediations- und Beratungsangebote sind hierfür wichtige Bausteine.

Anerkennung für geleistete Arbeit ist Teil einer erfolgreichen Resozialisierung. Daher wollen wir die Vergütung für Gefangenenarbeit angemessen erhöhen. Mit entsprechenden Vorbereitungsprogrammen wollen wir den offenen Vollzug weiter stärken.

Niemand sollte allein deswegen ins Gefängnis kommen, weil sieer eine Geldstrafe nicht bezahlen kann. Deshalb werden wir die bereits bestehenden Angebote, die Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzuwenden, ausbauen und die Beratung der Betroffenen intensivieren. Hierfür ist eine auskömmliche Finanzierung freier Träger der Straffälligenhilfe, die auf diesem Gebiet wertvolle Arbeit leisten, sicherzustellen.


Opfer von Straftaten schützen, Unterstützungsangebote ausbauen
Wir wollen einen besseren Opferschutz im Strafverfahren erreichen. Deshalb werden wir die Hilfseinrichtungen für Opfer von Straftaten stärker unterstützen und legen dabei einen Schwerpunkt auf die Opfer von Sexualstraftaten sowie rassistischen, antisemitischen oder homo- und transphoben Übergriffen. Bei den Staatsanwaltschaften wollen wir Ansprechpersonen für gleichgeschlechtliche Lebensweisen etablieren, an die sich von sexualisierter Gewalt betroffene Opfer wenden können. Wir wollen uns für eine bessere Verankerung des Opferschutzes in den maßgeblichen Bundesgesetzen einsetzen. Im Rahmen der Polizeiausbildung wollen wir den angemessenen Umgang mit Opfern von Straftaten umfassend verankern.

Opfer von Straftaten und Gewaltverbrechen und deren Angehörige wollen wir auch nach Abschluss eines Verfahrens nicht alleine lassen. Wichtig sind hier neben fundierter Beratung vor allem der schnelle Zugang zu psychotherapeutischer Beratung und finanzieller Unterstützung. Wir wollen daher für eine breitere Fortbildung von Rechtsanwälten im Opferrecht werben und setzen uns für einen besseren Zugang zu ambulanter und stationärer Psychotherapie ein. Hier sind mit dem Opferentschädigungsgesetz bereits gute Anfänge gemacht. Die Umsetzung der Novelle des Opferentschädigungsgesetzes werden wir in diesem Sinne eng begleiten.

Die Unterstützung durch den hessischen „Fonds für die Opfer und Angehörige schwerer Gewalttaten von landesweiter Bedeutung und von Terroranschlägen“ wollen wir verstetigen und ausbauen. Die Betreuung sowie Versorgung von Opfern und Betroffenen von Gewalt und Terror und deren Angehörigen ist uns ein besonderes Anliegen und muss stetig ausgebaut werden. In diesem Zusammenhang unterstützen wir die Landesopferberatung in ihrer Wirksamkeit und bei der Entwicklung konkreter Handlungsleitfäden. Dabei sind bereits vorliegende Erkenntnisse wie die der Bundesopferberatung einzubeziehen.